In seiner suggestiven Schlichtheit umfasst der Titel Raam Reddys zweiten Spielfilms kongenial die Vielschichtigkeit der exemplarischen Erzählung. Die verwebt magisch-realistische Elemente mit spielerischer Selbstverständlichkeit in eine mahnende Morallektion, die ein imperialstisches Märchen demaskiert. Es ist der materialistische Mythos von den gerechten Gutsbesitzern, die ihre Arbeitenden respektieren und keinen Unterschied zwischen sich und unteren Klassen sehen. Wie der Plantagenbesitzer Dev (Manoj Bajpayee) und seine Familie, deren Augen verschließen vor sozialen Kluften sich als fatale Hybris entpuppt.
Wenn der Patriarch eines weitläufigen Pinien-Hains im Handlungsjahr 1989 in einer prologartigen Planszene sein Haus und Grundstück abschreitet, um sich schließlich mit selbstgebauten Adlerschwingen in den Himmel zu erheben, macht ihn dieses buchstäbliche Abheben zu einem indischen Ikarus. Dessen moralischer Fall beginnt mit einem verbrannten Baum, dem immer mehr folgen. Bis ein ganzes Feld in Flammen steht. Der Schaden versinnbildlicht die schwelende Frustration unter den Arbeitenden, die erfolglos gegen den Einsatz gefährlicher Pestizide protestierten.
Dabei verzichtet der Regisseur und Drehbuchautor bewusst darauf, Dev, seine Frau Nandini (Priyanka Bose), die gerade von der Universität zurückgekehrte Tochter Vanya (Hiral Sidhu) und den kleinen Sohn Juju (Awan Pookot) zu dämonisieren. Wie die Sagenwesen, von denen eine Angestellte erzählt, sind sie blind für ihre Distanz zur Lebensrealität ihrer Untergebenen und akzeptieren ihre Privilegien selbstverständlich. Erst als mit einem korrupten Polizeibeamten staatliche Gewalt in das trügerische Idyll eindringt, offenbaren sich das Paradies als Hölle.
Die warmen Goldtöne, in denen Raam Reddy seine moderne Sage einfängt, erhitzen sich mit den unterdrückten Konflikten zu einem Lauffeuer, das die romantische Landschaft in ein Inferno verwandelt. Die symbolträchtigen Flammen brennt auch die Fassade von der harmonischen Hegemonie herunter. In der Krise enthüllt sich die zuvor nur latent präsente Selbstgerechtigkeit und Selbstsucht des vermeintlich gutherzigen Protagonisten. So wie seine hochmütigen Höhenflüge verlieren sich die märchenhaften Facetten, mit deren lyrischer Überhöhung problematischer Hierarchien die Handlung sich selbst dekonstruiert.
- OT: The Fable
- Director: Raam Reddy
- Screenplay: Raam Reddy
- Country: India, USA
- Year: 2024
- Running Time: 119 min.
- Cast: Manoj Bajpayee, Priyanka Bose, Deepak Dobriyal, Awan Pookot, Tillotama Shome, Hiral Sidhu
- Image © Maxmedia