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Cannes ’22 Competition: “Tori and Lokita”

Cannes ’22 Competition: “Tori and Lokita”

Der Hoffnungsschimmer, mit dem Jean-Pierre und Luc Dardenne die harsche Welt ihrer sozialkritischen Werke aufhellen, erlischt bereits in der Eröffnungsszene ihrer lakonischen Tragödie. Deren Verlauf, der durch die charakteristische Knappheit der besten Dardenne-Filme noch unaufhaltsamer scheint, überzeugt weniger als menschliches Drama denn als cineastische Kapitulation vor einem System, das die jungen Hauptfiguren im Stich lässt. Umso riskanter die Lage für die Wahlgeschwister wird, umso lauter die Warnung vor den fatalen Auswirkungen gesellschaftlicher Gleichgültigkeit.

Eine Sachbearbeiterin, die der jugendlichen Lokita sagt, dass sie ihr gerne die dringend benötigten Papiere ausstellen würde, aber nicht kann. Eine Fallbearbeiterin, die nie sichtbar wird. Autos, die achtlos weiterfahren. Alle hätten etwas ändern können, sogar noch an der verzweifelten Lage, in der Lokita (Mbundu Joely) und der ebenfalls aus Benin geflohene Tori (Pablo Schils) zu Beginn stecken. Lokita braucht Geld für die Schmuggler und ihre Mutter, und ohne Aufenthaltsgenehmigung außerdem Essen und eine Bleibe. 

All das verspricht ein dreimonatiger Job auf einer abgelegenen Cannabis-Farm, bei dem sie wie eine Gefangene ohne Sonnenlicht und frische Luft in einer umgebauten Fabrikhalle eingesperrt lebt. Entschlossen seiner wichtigsten und einzigen Bezugsperson zu helfen, bringt Tori beide in immer größere Gefahr. Die Regie-Brüder riskieren selbst die Glaubwürdigkeit ihrer Story, wenn sie sich vom vertrauten Terrain der figurenfokussierten Sozialskizze bewegen. Doch dank der überzeugenden Laiendarstellenden bleibt eine emotionale Authentizität, deren Message länger nachhallt.

Für eine dritte Goldene Palme, wie sie Jean-Pierre und Luc Dardenne zweimal aus Cannes mitnahmen, ist ihre Momentaufnahme eines frei geknüpften Geschwisterbandes dramaturgisch zu unsicher. Die Balance zwischen kühlem Realismus und subtiler Sentimentalität verschiebt sich zugunsten zweiter, was dem appellativen Grundton geschuldet ist. Dabei ist die von den jungen Darstellenden mit naturalistischer Ungezwungenheit gespielte Zuneigung der Hauptfiguren weit bewegender als die Eskapaden mit Drogendealern und Schmugglern. Bei allem Gutwillen regiert mehr Klischee als Kunst.

  • OT: Tori et Lokita
  • Director: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne
  • Screenplay: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne 
  • Country: France, Belgium
  • Year: 2022
  • Running Time: 88 min. 
  • Cast: Claire Bodson, Charlotte De Bruyne, Tijmen Govaerts, Mbundu Joely, Nadège Ouedraogo, Pablo Schils, Batiste Sornin, Alban Ukaj, Marc Zinga
  • Release date: –
  • Image © Wild Bunch International
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