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Berlinale ’15: Berichte – Teil 2

Berlinale ’15: Berichte – Teil 2

Ned Rifle – Panorama

Neun Jahre nach seinem letzten abendfüllenden Spielfilm meldet sich der multidisziplinäre Filmemacher Hal Hartley zurück und vollendet sein kurioses Crossover aus Familienepos und skurriler Komödie. Jeder Teil der Trilogie trägt den Namen seines (Anti)Helden. Zuerst kam Henry Fool, dann folgte Fay Grim. Der Nachwuchs der beiden heiß Ned Rifle und ist mittlerweile ein junger Erwachsener mit einer Mission. Ned (Liam Aiken) sieht aus wie Keanu Reeves in Bill und Ted’s verrückte Reise durch die Zeit und lebt seit vier Jahren in der frommen Familie eines Pastors (Martin Donovan) im Zeugenschutzprogramm.

Pünktlich zu seinem 18. Geburtstag bricht der gottesfürchtige Ned von dort auf,um seinen allen irdischen Lastern frönenden Vater Henry Fool (Thomas Jay Ryan) büßen zu lassen.Weil Neds Mutter (Parker Posey) wegen Henry eine lebenslange Haftstrafe absitzen muss, will Ned ihn umbringen. Nach einem Besuch bei der frisch aus dem Hochsicherheitstrakt verlegten Fay verfolgterdieSpur seines Vaters bis zuseinemmit dem Nimbus als Dichter ringenden Onkel Simon (James Urbaniak). Neben den gesuchten Informationen findet Neddie psychopathische Literaturstudentin Susan (Aubrey Plaza), die fortan nicht von seiner Seite weicht. Er verteilt leichthin sein enormes Geldvermögen, wovon sie pragmatisch Gebrauch macht, hat Kontakt zu Simon, dessen glühender Fan und Stalker sie ist, und ist unterwegs zu Henry Fool, mit dem sie eine turbulente Vergangenheit teilt. So ein wildes Vorleben haben nahezu alle Figuren und da Hartley seine Trilogie offenbar in erster Linie als Film für Fans konzipiert hat, schert er sich wenig darum, ob Neueinsteiger die Ereignissen nachvollziehen können.

Da die Filme je im Abstand von neun Jahren herauskamen und dies hauptsächlich auf Festivals liefen, tappen die meisten Zuschauer vermutlich ebenso wie ich im Dunkeln, wenn Figuren seltsame Aktionen abziehen als hätten dies einen ganz bestimmten Grund. Vielleicht wurde in den vorherigen Filmen auch gar nichts erklärt und den Darstellern bloß gesagt, sie sollten bedeutsam gucken. Das weiß man nie so recht bei Hartley, der seiner Tragikomödie bewusst einen absurden Touch gibt. Wer den staubtrockenen Humor, persiflierendes Philosophieren und gelegentliche geschmackliche Entgleisungen bereist schätzt, wird mit Henry Fool, Fay Grim und Ned Rifle beim Heimvideoabend vermutlich Familienzusammenführung feiern.

  • OT: Ned Rifle
  • Regie: Hal Hartley
  • Drehbuch: Hal Hartley
  • Produktionsland: USA
  • Jahr: 2014
  • Laufzeit: 85 min. 
  • Cast: Aubrey Plaza, Parker Posey, Liam Aiken, Robert John Burke, Martin Donovan, James Urbaniak, Bill Sage

Varieté – Classics

In den 20ern genossen Filme aus der Welt der Schausteller in Zirkus, Cabaret und Rummelplatz eine kurze Popularität. Doch E. A Duponts wiederentdeckte und -aufgeführte Varieté ist mehr als ein Relikt eines vergangenen Trends und einer vergangenen Kunstform. In dem gefühlsbetonten Stummfilm hat Karneval-Manager Huller (Emil Jannings) bereits einen schweren Absturz hinter sich, als die typische Geschichte von Begehren und Buße beginnt. Bis zu einem Trapez-Unfall war er ein berühmter Akrobat. Nun führt er ein vergleichsweise bürgerliches Leben mit Frau und Kind. Beiden kehrt er den Rücken als die junge Bertha-Marie ihn verlockt. Auf ein flüchtiges Glück mitder halb naiven Femme fatale (eine unwiderstehlichen Lya de Putti) folgt der soziale Fall.

Der Plot evoziert sowohl zeitgenössische Filme wie The Devil’s Circus von Benjamin Christianson oder He who gets slapped mit Lon Chaney als auch zukünftige Klassiker wie Josef von Sternbergs Der Blaue Engel. Letzter ist die wohl bekannteste Adaption von Heinrich Manns Roman „Professor Unrat“, dessen Grundzüge in Duponts Handlung unverkennbar sind. Mit Bertha-Marie nimmt Huller sein altes Leben als Wanderdarsteller wieder auf. Unter den Akrobaten begegnet ihnen der Zirkusstar Artinelli (Warwick Ward), der mit seiner Agilität und allglattem Charme das Gegenbild des grobschlächtigen Huller darstellt. Wie es kaum anders sein könnte, hegt Artinelle amouröse Absichten gegenüber Hullers attraktiver Gefährtin und engagiert sie und ihren lästigen Begleiter mit nicht ganz ehrenhaften Hintergedanken für seine Truppe. Als Huller das Verhältnis entdeckt, sinnt er auf Rache – das kann in einem ausgewiesenen Melodram nur in Tragik münden. Das Drama nimmt seinen Lauf, der aus heutiger Sicht nicht überraschend scheint. Doch dank der guten Darsteller und stimmigen Inszenierung hat das restaurierte Schausteller-Stück von 1925 nichts von seiner Ausdruckskraft verloren. Ein Höhepunkt der Berlinale Classics wird es durch den besonderen Rahmen der Wiederaufführung. Für die musikalische Untermalung sorgen The Tiger Lillies. Das an Brecht, Weill und schauerliche Moritaten angelehnte Liedgut der drei britischen Bänkelsänger ist allein schon jeden Besuch wert.

  • OT: Varieté
  • Regie: E. A. Dupont
  • Drehbuch: Leo Birinski, E. A. Dupont
  • Produktionsland: Deutschland
  • Jahr: 1925
  • Laufzeit: 95 min.

Nena – Generation

Die Schlagworte „Ausnahmetalent“ und „brillant“, begleitet von den Name zu oft oder nie zuvor gesehener Schauspieler wirken in Filmsynopsen wie Alarmsignale. Ist die Synopsis dazu zweieinhalb Sätze lang und enthält den Namen Uwe Ochsenknecht („brillant“), ist das geradezu ein Warnschrei. Nur nicht, dass der Kritiker sich eine nicht-positive oder überhaupt eine eigenen Meinung über das Gesehene bilde! Besser der Verleih schreibt wortwörtlich vor, wie ein Film zu werten ist. Damit das Publikum nicht trotzdem beim Anschauen realisiert, von welcher Qualität Saskia Diesings Nena ist, übermittelt ein Dialog sicherheitshalber unmissverständlich die Sinneshaltung, mit der die Teenie-Schnulze aufzunehmen ist: „Man sollte nicht zu viel denken!

Das erklärt der Freund Carlo (Gijs Blom) der 16-jährigen Titelheldin (Abbey Hoes). Die will im Herbst 1989 an der niederländischen Grenze zu Deutschland ihrem querschnittsgelähmten Vater Martin (brill… nein, leider nicht brillant, sondern einfach nur wie immer: Uwe Ochsenknecht) aus der Depression holen und nebenbei das komplette „Bravo“-Repertoire an Teenager-Klischees ausleben. Getauft wurde die Protagonistin vermutlich nach der gleichnamigen Popsängerin, die 1983 mit „99 Luftballons“ einen der nervigsten und leider auch erfolgreichsten Hits der Ära hatte. Namen sind in Diesings Debütfilm so bedeutsam, dass Martin abfällig bezüglich einer Freundin seiner Tochter bemerkt: “Wer bitte nennt sein Kind Heidemarie?“ Heidemarie – voll uncool! Aber Nena – ey, cooler geht’s ja wohl nicht mehr! Zumindest im Handlungsjahr ’89, das die Regisseurin lebensecht zu vermitteln versucht, indem sie vergilbte Zeitschriften (waren aktuelle Tagesausgaben vor der Wende schon am Kiosk vergilbt?) und die schlimmsten Klamotten vom Flohmarkt in die seichte Story wirft. Nena und Carlo, die gänzlich unglaubwürdig innige Verliebtheit vorgeben, weil das nunmal so im Drehbuch steht, und alle inklusive Heidemarie sehen aus als wären sie unterwegs zu einer Single-Party mit dem Motto „Das waren die 80er!“ Ein alternatives Motto wäre „Das war Diesing!“, denn ihr Familienfilm, dem ich das „Prädikat besonders wertvoll“ prophezeie, ist nämlich autobiografisch. Hey, waren wir nicht alle damals die Coolsten der Clique, ach was, die Coolsten weit und breit? Diesing war mal Nena oder genauso Nena-mäßig cool, auch wenn sie Saskia heißt. Das kommt zwar nicht so super wie Nena, aber es gibt Schlimmeres. Heidemarie. Für die filmische Nena gilt das leider nicht.

  • OT: Nena – Viel mehr geht nicht
  • Regie: Saskia Diesig
  • Drehbuch: Saskia Diesig, Esther Gerritsen
  • Produktionsland: Deutschland, Niederlande
  • Jahr: 2014
  • Laufzeit: 95 min.

Beitragsbilder © Berlinale

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