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Berlinale ’12: “Die Vermissten” aus der Kleinstadt der verlorenen Kinder

Berlinale ’12: “Die Vermissten” aus der Kleinstadt der verlorenen Kinder

»Das Staunen über die Welt gehört den Kindern, aber das Staunen über die Kinder gehört den Erwachsenen.« Klingt krass tiefschürfend. Besonders wenn es weiß auf schwarzer Leinwand eingeblendet wird, wie zu Beginn von Jan Speckenbachs Spielfilmdebüt. Das handelt von verschwundenen Kindern. Sozialdrama oder Horrorfilm? Weder noch, eher was in die Richtung Esoterik-Kinderkrimi. „Unfreiwillige Komödie“ ist ja (noch) kein Genre. 

Bedeutsame Vorzeichen und Andeutungen kann ein Film gar nicht genug haben, glauben der Regisseur und seine Co-Drehbuchautorin Melanie Rohde. Macht nichts, dass der ominöse Overkill letztlich ins Leere trudelt. Dieses Schicksal teilt er mit den Titelfiguren. »Einfach in die Richtung weiter«, will die Lou (Luzie Ahrens), die erste der Vermissten, die rund drei Minuten Auftrittszeit zur tragenden Figur aufbauen sollen. Weil sie niemand gewarnt hat, nicht zu Fremden ins Auto zu steigen, lässt Lou sich von Lothar (Andre M. Hennicke) mitnehmen. Auf ähnliche Weise gabelt der Kernphysiker die Vagabundin mehrmals auf, wobei er sie vor Umstehenden rabiat als seine Tochter ausgibt. Gemeingefährlich? Nein, die Art von Vermisste- Kinder-Drama ist Die Vermissten nicht, denn Lou akzeptiert den Übergriff ähnlich gleichgültig wie beobachtende Passanten. Lothars echte Tochter ist »natürlich nicht« bei ihm entgegnet er seiner Ex-Frau Sylvia (Jenny Schily), die ihn wegen deren Verschwindens anruft. Wäre ja auch verrückt, eine minderjährige Tochter bei ihrem Vater zu vermuten. 

Eine der Titelfiguren ist die seit Jahren aus seinem Leben getilgte Martha nicht – nicht für Lothar, der »damit nichts mehr zu tun haben will«. Warum er sich dennoch auf die Suche nach der 14-Jährigen begibt, enthüllt sich, als der Protagonist selbst ein Vermisster ist und konstatiert, er sei nur abgehauen, um mal auszuspannen. Klar, was machen genervte Eltern, wenn der Nachwuchs abhanden kommt? Mal richtig ausflippen oder endlich relaxen. Vermutlich haben darum die Eltern eines ebenfalls unauffindbaren Mitschülers Marthas ihren Sohn nicht bei der Polizei gemeldet. »Der Junge kam aus einer asozialen Familie«, bemerkt Sylvia. Da Lothar sozial ist, fragt er auf der Polizeiwache: »Finden Sie es normal, dass Jugendliche einfach so verschwinden?« An sich schon, erläutert der Beamte im Robotertonfall, beträfen Kindern doch 90 Prozent aller Vermisstenmeldungen. 

80 Prozent davon tauchten angeblich wieder auf. »Und was ist mit den restlichen 20 Prozent?«, fragt Lothar. Diese Frage und die danach, wie er trotz mangelnder Rechenkenntnisse Kernphysiker werden konnte, bleiben nicht als einzige offen. Warum wundern Lous Eltern sich nicht, dass ein fremder Mann ihre Tochter an ihrer Haustür abliefert? Warum reagiert Lothar nicht, wenn ein Stein die Autoscheibe einschlägt? »Was heißt das: Martha ist Mitglied in der Gruppe Fliegende Ratten?«, fragt Lothar, der nichts von Facebook versteht. Fummelt er an einem Taubenkadaver herum, weil Tauben die Ratten der Lüfte sind? Brennt der Molotow-Cocktail am Ende auf der Straße nur, weil das so endzeitlich aussieht? 

Antworten vermisst man: »Ist heute Wochenende?« – »Nein, heute ist kein Wochenende!« Sonst wären wohl nicht einmal Filmkritiker als Zuschauer im Saal. Dass der am Ende leerer ist, wundert wenig. Auch dazu gibt es den passenden Dialog: »Warum bist du gegangen?« – »Es hat mir nicht gefallen.« 

  • OT: Die Vermissten
  • Regie: Jan Speckenbach
  • Drehbuch: Jan Speckenbach, Melanie Rohde
  • Produktionsland: Deutschland 
  • Jahr: 2012
  • Laufzeit: 86 min. 
  • Cast: Andre M. Hennicke, Luzie Ahrens, Sylvana Krappatsch, Jenny Schily, Sandra Borgmann, Christoph Bantzer, Nicole Mercedes Müller, Irene Rindje, Ecki Hoffmann 
  • Kinostart: 10.05.2012
  • Beitragsbild © Filmgalerie 451