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“La lisière – Am Waldrand” demaskiert die bürgerliche Pathologie

“La lisière – Am Waldrand” demaskiert die bürgerliche Pathologie

Kinderschuhe, ein glitzernder Rock, unsichere Schritte in der Nacht. Ein junges Mädchen, ein anhaltendes Auto, ein erwachsener Mann. Im Morgengrauen entdeckt ein Forstarbeiter etwas im nassen Gras. Ein Verbrechen ist am Titelort geschehen in Geraldine Bajards brillantem Psychogramm einer geschlossenen Gesellschaft. Die Grenze bedeutet der französische Originaltitel La Lisiere. Hinter ihr liegt die exklusive Siedlung von Eigentumshäusern Beauval und seine Bewohner spielen ein perfides Spiel. 

Der gerade zugezogene Arzt Francois fragt sich, was gespielt wird. Die jugendliche Claire kennt die Regeln des Spiels. Die Karten verteilt Geraldine Bajard. Der Zuschauer legt sie selbst. Ein ungutes Gefühl beschleicht Francois (Melvil Poupard), als  er die tadellose Wohnung in Beauval besichtigt. Dennoch zieht der junge Arzt mkit seiner Freundin aus der Stadt in eines der Häuser, welche die Straße durch ein dichtes Waldstück säumen. Nach Beauval,  das nicht so schön ist. Ein kleines Mädchen (Marie Fritel-Sina) ist umgekommen. Für eine besondere Nacht hatte sie sich wie eine Erwachsene geschminkt. So tun es alle Mädchen in Beauval. Die anderen Kinder haben zugesehen. Sie konnte es nicht tun. Der Fahrer des Wagens ist geflohen. Niemand weiß, wer es war. Doch die Kinder haben einen Verdacht. Sie beobachten ihn, glaubt Francois. Am Waldrand spielen sie seltsame Spiele. Wie kindlich sind sie in Wahrheit? Ihr Anführer Cedric (Phenix Brossard) kommt in sein Haus. „Die Kinder haben eine besondere Energie“, lächelt eine Fotografin aus Beauval zu Francois. Ein Nachtbesuch Francois bei Claire (Alice De Jode). Wie viel weiß sie? 

Mehr als Francois, mehr als das Publikum. Alles weiß nur Geraldine Bajard. Jeder Zug ihres diffizilen Plots ist präzise geplant. Jeder Dialogsatz abgewogen, als hätten ihn die wunderbar perfiden Charaktere ersonnen. Das Plaudern der Anwohner ist verschwiegen. Alle reden, ohne etwas zu verraten. Auch Bajards doppelbödiges Spielfilmdebüt verrät nichts. Die Drehbuchautorin und Regisseurin, die zuvor als Dramaturgin an Jessica Hausers nicht minder subtilen Lourdes mitarbeitete. Mit inszenatorischer Raffinesse verflechtet sie Andeutungen zu einem Handlungsstrick, der systematisch in die Irre führt. In dem sie in bitterböser Weise vorgefestigte Erwartungen manipuliert, zeigt Bajard den Betrachtenden eigene Vorurteile auf. La Lisiere ist nicht Waldrand, sondern Grenzgebiet, Randgebiet, sexuell, psychologisch, pathologisch. Sie trennt die strenge Zivilisation der Privatsiedlung von der Wildnis des Unterbewusstseins. 

Der triste Chic kalter Villenfassaden ist eine Festung inmitten bedrohlicher Baumschatten. Gesichert wird sie durch den eisernen Zusammenhalt der Bewohner. Fataler als ein Eindringling wäre ein Verräter in ihrer Mitte. Im Dickicht wuchernder Triebe regiert ein eigenes Regelwerk. Die Kinder handeln danach, müssen folgen wie alle anderen. Der stechende Blick der Jugendlichen, ihre Frühreife in der Grausamkeit und der Sexualität ist beklemmender als drastische Gewaltszenen. Die pathologische Atmosphäre versteckter Begierde und Perversion, welche der Hauptcharakter um sich spürt – wohltuend spürt, wie Francois sich zu seinem eigenen Schrecken eingesteht – scheint ein dunkles Erbe, über Generationen weitergegeben. Doch Bajard erlaubt keine beruhigende Erklärung, keine Flucht in übernatürlichen Horror oder laienpsychologische Begründungen. Allein der Schrecken bleibt. 

  • Beitragsbild © RealFiction
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